Cover
Titel
Deutsche Autobiographien 1690-1930.


Herausgeber
N.N.
Reihe
Digitale Bibliothek
Erschienen
Anzahl Seiten
1 CD-ROM
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Fischer, Gewerbeschule Steinhauerdamm, Hamburg

Selbstzeugnisse sind eine traditionelle Quelle der Geschichts- und Literaturwissenschaften. Umso mehr wurde eine digitale Sammlung, wie sie jetzt vorliegt, vermisst, ermöglicht sie doch eine schnellere Suche nach Stichworten, unabhängig von etwaigen manuell erstellten Registern, ein einfacheres Nachlesen ohne Griff in die vielleicht unvollständige Handbibliothek und eine unkomplizierte Übernahme von Zitaten und Abbildungen in andere Programme.

Der 102. Band der bewährten "Digitalen Bibliothek", ausgeliefert im handlichen Taschenbuchformat, enthält 158 Selbstzeugnisse aus dem deutschsprachigen Raum. Die große Mehrheit der Texte stammt aus dem 19. Jahrhundert, abgedeckt werden außerdem das 18. und frühe 20. Jahrhundert, nur einzelne Titel sind nach 1930 erschienen. Vorgestellt werden überwiegend Schriftsteller sowie Komponisten, Schauspieler, Künstler, ferner Philosophen, Historiker, Politiker, Arbeiter, Ärzte, Naturwissenschaftler und Kriminelle. Das Spektrum reicht von den Pietisten August Hermann Francke und Johanna Eleonora Petersen (um 1700) über Christian Wolffs "Selbstschilderung", Goethes "Dichtung und Wahrheit" und Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen" bis hin zum erst 2003 posthum erschienenen Werk „Von Menschen und Büchern“ des Schriftstellers Georg Witkowski (1863-1939). Es reicht von der zehnblättrigen "Autobiographie" Eduard Mörikes (1834) bis hin zum 2000-Seiten-Opus des katholischen Theologen Friedrich Hurter (1845) und von der Kellnerin Mieze Breitenbach bis zum Weltreisenden Carl Hagenbeck. Insgesamt 30 Frauen sind vertreten, über alle Epochen und Schichten verstreut. Etliche Texte sind seit langem nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Aber es fehlen auch manche Autoren, die eigentlich hierher gehörten: etwa Friedrich II. von Preußen, Johann Heinrich Jung-Stilling, Albert Schweitzer, Lou Andreas-Salomé. Ebenfalls auf der CD enthalten sind 412 Abbildungen, überwiegend Porträts der Verfasser. Soviel zur Statistik.

Die Auswahl der Autoren wirft vor allem ein ausgezeichnetes Licht auf das literarische Leben im 18. und 19. Jahrhundert: Der Leser beobachtet das Auf und Ab verblichener Modeschriftsteller, Glanzzeiten und Intrigenspiele an den verschiedenen Hoftheatern, die Schiller-Wahrnehmung der Bürgerlichen und die Heine-Rezeption der Sozialisten und natürlich das unablässige Defilee der großen Namen und der großen Ereignisse. Weiterhin sehr gut beobachten lassen sich beispielsweise der Wandel des politischen Engagements vor und nach 1848, die frühe Sozialdemokratie, die Verhältnisse in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten oder das Zurückdrängen der Homöopathie. Selbstverständlich gerät vor allem das alltägliche Leben in den Blick: Ernährungsgewohnheiten, Wohnungseinrichtungen, Liebeshändel, Geldsorgen. Breiten Raum nimmt auch die tägliche Lektüre ein, vom Nachrichtenblatt bis zur „Gartenlaube“, welche etwa bei August Bebel, Wilhelm Ostwald und Hermann Sudermann gerne zitiert wird.

Wesentliches Kriterium bei der Auswahl der Texte, so der Herausgeber, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Berliner Humboldt-Universität, sei „die Entwicklungsgeschichte autobiographischen Schreibens“ gewesen. Prägend waren vor allem das narrative Muster der pietistischen Bekehrungserzählung, dann das universalhistorische Selbstbewusstsein der Geniezeit und schließlich das zunehmend problematischer werdende Ich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ziel der Anthologie sei es, „ein Panorama zu öffnen“ und möglichst viele Berufsgruppen, Lebensbereiche und Schreibstile zu versammeln. Von dieser Einleitung abgesehen verzichtet die Sammlung auf editorische Anmerkungen und auf weiterführende Erläuterungen zur Entstehungs- und Vermarktungsgeschichte der einzelnen Werke.

Der größte Vorteil einer digitalen Edition ist die Suchfunktion: Problemlos lassen sich Namens-, Orts- und Begriffslisten erstellen (und speichern), auch kombinierte Suchen durchführen. Die Vorzüge und Zusatzfunktionen der "Digitalen Bibliothek" sind bekannt. Seit Herbst 2004 gibt es die Version 4 für Windows. Im Vergleich zum Vorgänger wirkt sie frischer und aufgeräumter. Die Werkzeugleiste ist vom Mittelbalken an den oberen Rand gewandert, die Karteireiter für die Hauptfunktionen wurden in eine Symbolleiste am linken Bildschirmrand umgewandelt. Auch der Bildbetrachter hat nun eine praktische Werkzeugleiste. Der Drei-Fenster-Modus (Inhaltsverzeichnis, große Seite, mehrere kleine Seiten) hingegen ist weggefallen. Neu sind die Möglichkeit, Unterkapitel im Inhaltsverzeichnis auszublenden, und die Themensuche, eine Erweiterung der Mehrwortsuche. Die übrigen Funktionen sind geblieben. Es ist weiterhin möglich, eine Plus-Variante des Digibib-Programms zu erwerben. Damit ist die gleichzeitige Nutzung mehrerer Bände einschließlich Festplatteninstallation möglich. Für Apple-Nutzer steht das Programm MacDigibib zur Verfügung, eine Linux-Version ist in Arbeit.

Die digitale Verfügbarkeit von fast 77.000 Buchseiten entbindet natürlich nicht von der Pflicht, die Texte auch zu lesen. Sofern die Computer-Hardware es erlaubt, spielt die Software mit und bietet beispielsweise einen lesefreundlichen Kompaktmodus an.

Die Anthologie bietet einen breiten und faszinierenden Überblick über die mitteleuropäische Kultur- und Sozial-, Politik- und Mentalitätsgeschichte, insbesondere im 19. Jahrhundert. Alle wichtigen Autoren sind hier versammelt und auch etliche weniger wichtige, die sonst gerne übersehen werden. Allen Texten gemeinsam ist die persönliche Perspektive, durch die das regionale und das Weltgeschehen wahrgenommen werden. Insgesamt hat diese Quellensammlung einen festen Platz im Bücherregal jedes Spätneuzeitlers verdient.

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